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Bloggiversum

Über die Kunst sich treiben zu lassen

Über die Kunst sich treiben zu lassen, blinden Aktionismus und die Faszination von Facebook Likes.

Sich treiben lassen ist harte Arbeit

Als Thor Heyerdahl sich 1947 auf einem Floß über den Pazifik treiben ließ, wollte er nicht einfach nur ein paar nette Tage auf See verbringen. Er brach auf, um eine verrückte Theorie zu beweisen: Die polynesischen Inseln seien nicht wie landläufig angenommen von Westen her aus Asien bevölkert worden, sondern von Osten aus Südamerika. Das besondere daran: Die südamerikanischen Prä-Inka-Kulturen waren keine Seefahrernation. Sie bauten Flöße und ließen sich damit von der Meeresströmung hinaustragen. Von Peru nach Tahiti sind das in etwa 8000 km.

schwerer-prozessSich einfach treiben zu lassen, klingt zunächst nach Urlaub, Entspannung, Erholung. Aber wer sich wirklich treiben lässt, der bricht auf in das Unbekannte ohne die Fähigkeit seine Richtung zu ändern, anzuhalten oder umzukehren. Sich treiben zu lassen bedeutet, die Dinge geschehen zu lassen und sie zu ertragen. Wer sich treiben lässt, befindet sich in einem Prozess. Und Prozesse sind schwer auszuhalten. So ist das mit allen Prozessen, ganz besonders mit künstlerischen.

Keep calm and carry on

Holm Friebe von der Süddeutschen Zeitung berichtet in seinem Artikel „Einfach treiben lassen“ vom Aktionismus der Menschen in Krisensituationen und wie schwierig es ist, unüberlegtes Handeln sein zu lassen. Die Wissenschaft hat sogar einen Begriff dafür: „Action Bias, … die Neigung, auch dann aktiv zu handeln, wenn das Handeln voraussichtlich nutzlos, möglicherweise sogar schädlich ist“ (Wikipedia). Unsere Instinkte sind genetisch darauf programmiert in heiklen Situationen schnelle Entscheidungen herbeizuführen. „Fight-or-flight – Kämpfe oder flüchte“ lautet die steinzeitliche Devise, die immer noch in uns schlummert. Damals konnte Nachdenken tödlich sein. Wer in einer gefährlichen Situation nicht blitzschnell reagierte, wurde aufgefressen. In der heutigen Gesellschaft führt Nachdenken als langsamere Reaktion aber oftmals zum besseren Ergebnis. Politiker haben dieses Prinzip längst erkannt und perfektioniert: gar keine Reaktion zeigen und eine Sache einfach aussitzen, kann auch zum gewünschten Ergebnis führen…

Was nutzt es Facebook zu verteufeln, wo doch der Teufel in mir selber steckt.

desperate-likes-lockerDer Faszination auf Facebook „geliked“ zu werden kann sich wohl kaum jemand entziehen. Mich hat es erwischt. Das Like-System nutzt meine Bedürfnisse nach sozialen Beziehungen und sozialer Anerkennung schamlos aus. Facebook ist ein Geschäft. Dessen sollte ich mir bewusst sein, wenn ich die virtuellen Hallen des Großkonzerns betrete. Insbesondere bei Fan-Pages dreht sich alles um Reichweite und Kundenbindung. Wenn ich mein mic at six Facebook-Profil öffne, ermahnen mich blaue Schaltflächen an jeder Bildschirmecke: „Wirb für deine Seite, um dich mit mehr Nutzern zu verbinden, die für dich wichtig sind.“ – „Verbinde dich mit mehr Nutzern, die für dein Unternehmen wichtig sind.“ Alles gegen bare Münze versteht sich.

Als „privater“ Facebook-Nutzer werden mir diese Optionen (noch) nicht angeboten. Trotzdem bin ich Dartpfeil und Zielscheibe. Wenn ich mich damit arrangieren kann, komme ich klar. Wenn ich aber mein Selbstwertgefühl davon abhängig mache, ob und wie viele Likes ich für einen Post bekomme, kriege ich ein Problem. Aus der Erfahrung: „Wenn mein Bild geliked wird, bin ich gut/schön/talentiert“; wächst das (Miss-)Verständnis: „Nur wenn mein Bild geliked wird, bin ich gut/schön/talentiert“; mit dem Umkehrschluss: „Wenn ich nicht (genug) geliked werde, bin ich schlecht/hässlich/unfähig.“ Beim Durchzappen der unzähligen, unendlichen Posts auf meiner Facebook-Startseite, beschleicht mich das Gefühl, dass es nicht nur mir so geht. Nagt Facebook auch am Selbstwertgefühl anderer Nutzer?

Was kann ich von Thor Heyerdahl in dieser Situation lernen?*

Nach 101 Tagen auf See und rund 7000 km zurückgelegter Strecke, lief Thor Heyerdahls Floß bei Raroia auf ein Riff auf. Er strandete aber praktisch vor der Haustür Tahitis. Er konnte seine Theorie wissenschaftlich untermauern: Polynesien könnte aus dem Osten her bevölkert worden sein und nicht wie landläufig angenommen zwangsläufig vom Westen her aus Asien. Und das einfach, indem sich Heyerdahl von der Meeresströmung treiben ließ, wie die alten Prä-Inka-Kulturen.

CHAKKAMic at six ist nach rund 8 Jahren Berufstätigkeit mein erstes, freies künstlerisches Projekt. Ja, ich bin entsprechend aufgeregt. Ich bin dankbar und freue mich selbstverständlich sehr über Feedback von außen. Die Strömung hat mich in ein seelisches Facebook-Ungewitter getrieben. Was nützt es das Wetter zu verfluchen? Das gilt es auszuhalten. Meine „Like-Sucht“ ist Teil meines künstlerischen Prozesses. Nicht besonders cool, aber kein Grund sich zu schämen.

Ich werde mich also weiter treiben lassen. Ich werde mich weiter über Likes, Shares, Tweets und überhaupt freuen und ich werde daran arbeiten, mein Selbstwertgefühl nicht mehr so stark von „Statistik-Popistiken“ abhängig zu machen. Keep calm, mic, and carry on.

Also, weiter geht’s. Bis morgen um sechs :-)
Beste Grüße
euer mic

P.S.: Vielen Dank an meinen sehr guten Freund Aike Arndt für ein sehr gutes Gespräch und ein paar beruhigende Gedanken, die mich zu diesem Artikel inspirierten.

* Wer mehr über Thor Heyerdahl erfahren möchte: Kon-Tiki (1950), die oscarprämierte Doku. Ein echtes Abenteuer. Das Remake Kon-Tiki (2012) ist optisch gewaltig, inhaltlich seicht. Ein bisschen wie „Kein Schiffbruch ohne Tiger“, trotzdem sehr interessant, wie die historischen Erlebnisse hier interpretiert werden.